Sensibel und sensitiv sind zwei Begriffe, die im täglichen Sprachgebrauch gleichwertig verwendet werden. In meiner Wahrnehmung aber unterscheiden sie sich deutlich. Ich bevorzuge sensitiv, wenn ich von Polly spreche.
„Sensibel“ ist ein Wort, das uns leicht über die Lippen kommt und das wir in den unterschiedlichsten Zusammenhängen verwenden. Wir sprechen von sensiblen Menschen und sensiblen Daten, jemand hat eine sensible Verdauung, die Alpen reagieren sensibel auf die Klimaveränderung und ein Seismograph verhält sich so bei Erdbeben.
Ganz anders ist das bei „sensitiv.“ Ehrlich, wer muss da nicht nachschlagen? Ich habe Google nach „Unterschied zwischen sensitiv und sensibel“ befragt und satte 26.800 Ergebnisse erhalten. Die Definitionen stammen wahlweise aus Lexika oder von Laien und sind völlig konturlos. Sie weisen Synonyme aus wie einfühlsam, empfindsam, empfindlich, emotional leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, leicht reizbar oder feinfühlig – und zwar für sensibel und sensitiv gleichermaßen. Klarheit bringen sie nicht.
Restlos verwirrend ist es, wenn wir englische Texte lesen. Sensibel und sensitiv sind nämlich so etwas wie „false friends“. Da wir diese beiden Fremdwörter auch in Deutsch verwenden, sind wir verleitet, sie in der Übersetzung einfach zu übernehmen – und hier liegt der Hund begraben. „Sensible“ und „sensitive“ meinen auf Englisch nämlich nicht das gleiche wie auf Deutsch. Auf Englisch beschreibt „sensible“ Eigenschaften wie vernünftig, sinnvoll, verständig oder bewusst (sensible decisions). Und das ist nunmal wirklich nicht das Gleiche wie das deutsche „sensibel“. Der englische Begriff „sensitive“ dagegen kommt dem viel näher, was wir im Allgemeinen als sensibel bezeichnen – im Sinne von sensibel auf etwas reagieren.
Wer sich gerne wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen möchte, dem kann ich den Aufsatz von Petra Storjohann empfehlen. Sie hat die Begriffe „sensibel“ und „sensitiv“ umfassend empirisch nach ihren konzeptuellen Besonderheiten und ihrer Verwendung untersucht. Kurz zusammengefasst, kommt sie zu dem Ergebnis, dass im deutschsprachigen Raum sensibel und sensitiv zunehmend gleichwertig verwendet werden. Grund dafür ist, dass der Begriff „sensitiv“ eine Gebrauchserweiterung erfahren hat – unter anderem durch fehlerhafte Übersetzungen aus dem Englischen (s.o.). Doch eine klare Trennlinie findet sie schon:
Seine ursprüngliche Bedeutung „sensorisch, die Wahrnehmung mittels Sinnesorgane betreffend“ hat sensitiv nicht verloren und diese wird nicht mit sensibel geteilt.
Petra Storjohann
Wer sehr sensitiv ist, nimmt über seine Sinne besonders viel wahr, hört mehr, sieht mehr, riecht mehr, empfindet mehr äußere Einflüsse – und dieses Phänomen gibt es auch bei Hunden. Was das für die Ausbildung von Hunden bedeutet, habe ich in einem anderen Blogpost schon ein wenig beschrieben.
Eine Frage des Respekts
Eine Frage der Wahrnehmung ist aber auch die der Konnotation eines Begriffs – also all jene Bewertungen, die mitschwingen ohne begrifflich definiert zu sein.
Der Begriff „sensitiv“ fühlt sich für mich sehr neutral an, möglicherweise weil er kaum verwendet wird und nicht mit Erfahrungen und Emotionen aufgeladen ist.
Ganz anders verhält es sich mit dem Wort „sensibel“, da schwingen sofort Gefühle mit. Als sensibel beschreiben wir Menschen, die besonders feinfühlig und emphatisch sind. Sie suchen wir, wenn wir unglücklich sind, trauern oder vor einem schwierigen Problem stehen – also wenn uns ihre Empathiefähigkeit hilft.
Aber im Alltag, im stressigen Job, da wird es gleich mal mühsam, wenn jemand sensibel ist. Sensible Menschen werden dann gern als schnell ang’rührt, leicht eingeschnappt und gleich mal beleidigt beschrieben. Sie machen Probleme, halten auf und verlangen ständig Rücksichtnahme in einer Zeit, in der es doch nur um höher, schneller, weiter geht, um Gewinnen und Durchsetzen. Da kann so ein sensibles Wesen nicht mithalten, das ist ganz klar – und damit ist es raus aus dem Spiel. Tja, das ist hart, und um diese Härte aufzuweichen, wenden wir dann gerne Verniedlichungsformen an. Dann reden wir vom Sensiberl, Sensibelchen oder vom kleinen Tschopperl. Das mag aufs Erste durchaus liebevoll klingen, ist es aber nicht. Es ist Ausdruck einer Haltung, die Sensibilität als Schwäche versteht.
Aus all diesen Gründen habe ich beschlossen, den Begriff sensibel eher zu meiden und statt dessen zu sagen: Polly ist eine besonders sensitive Hündin.
„Eine andere Sprache ist wie eine andere Sicht auf das Leben.“
Federico Fellini
Diese Wortwahl ermöglicht es mir, unsere Situation aus einer neutralen Position zu betrachten. Sensitivität per se ist nicht gut oder schlecht, sie ist was sie ist – Punkt. Polly nimmt nun einmal besonders viele Reize wahr ohne sie zu filtern. Daraus resultiert ein bestimmtes Verhalten.
Helene Lawler, eine kalifornische Hundetrainerin sagt in ihrem äußerst hörenswerten Fenzi-Podcast „How to train sensitive dogs, dass jedes Verhalten erlernt und jedes erlernte Verhalten modifiziert werden kann. Dieser Gedanke gefällt mir, weil er sehr ermutigend ist. Er zeigt, dass ich das Heft in der Hand habe und durch richtiges Training die Situation für Polly, mich und alle, die mit uns trainieren, verbessern kann.
Eine wichtige Voraussetzung dafür aber ist, dass ich mich nicht von Emotionen überschwemmen lasse – und das wird mir besser gelingen, wenn ich den gefühlsbelasteten Begriff „sensibel“ in Bezug auf Polly meide und statt dessen den neutralen Begriff „sensitiv“ verwende.
Die erste Verhaltensänderung beginnt also bei mir.